Politisches (8)
Anhörung des Familienausschusses des Dt. Bundestages am 1.2.13
Am 01.02.2013 findet im Familienausschuß des Deutschen Bundestages eine öffentliche Anhörung zum Thema Contergan statt.
Anlaß ist hierbei der Endbericht der Studie über die Conterganofer, welche aufgrund eines Auftrages des Deutschen Bndestages vom Gerentologischen Instititut Heidelberg erstellt wurde.
Für das Contergannetzwerk Deutschland e.V. wird Christian Stürmer als Sachverständiger gehört
Hier zur schriftlichen Stellungnahme und Lösungsvorschlägen:
http://www.contergannetzwerk.de/component/k2/item/download/5_6bbcf9203e7b3b6fc91df61e406f5848.html
Von 1957 bis 1961 war Contergan rezeptfrei in Apotheken erhältlich. In der Bundesrepublik kamen etwa 5 000 Menschen mit einer Contergan-Schädigung zur Welt.
von Anina Valle Thiele
Contergan, einst aggressiv als Wundermittel gegen Übelkeit beworben, steht für den folgenschwersten Arzneimittelskandal des 20. Jahrhunderts und für scheinbar unerklärliches Leid: ein Skandal, der Deutschland 1960 in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs und des Glaubens an den Fortschritt überraschte. Während die Arzneimittelbranche boomte und monatlich rund 75 Präparate neu auf den Markt kamen, ereignete sich der Vorfall. Das schlechte Gewissen ist in Gestalt Contergan-Geschädigter bis heute präsent. Ihr Auftreten prägte die öffentliche Wahrnehmung behinderter Menschen. An den Anblick von Kriegsinvaliden war man gewöhnt, an junge Menschen mit verkürzten Armen und Beinen nicht. Hier hatte ein profitgieriges Unternehmen gepfuscht, hatten Chemiker mit NS-Vergangenheit etwas zusammengebraut und Menschen mit körperlichen Fehlbildungen waren das Resultat – so lautete eine Deutung des Skandals. Dass der Staat Anfang der siebziger Jahre gemeinsam mit dem Hersteller Grünenthal eine Stiftung schuf, um das Pharmaunternehmen zu schützen und die Contergan-Geschädigten damit gleichsam enteignete, ist bis heute kaum bekannt.
Nach einem halben Jahrhundert könnte Gras über die Sache gewachsen sein. Doch vielen der heute noch lebenden Menschen mit Schädigungen geht es schlecht: Ihre verschlissenen Gelenke machen ihnen zu schaffen, die spärliche Rente reicht kaum zum Leben und eine dringend benötigte Assistenz ist unbezahlbar, wie kürzlich eine Studie der Universität Heidelberg über Versorgungsdefizite Contergan-Geschädigter nachwies. Bis heute warten sie auf eine angemessene Entschädigung und auf eine wirkliche Entschuldigung.
Jahrestage haben den Nachteil, öffentliche Erinnerung zu provozieren. Ende August enthüllte Harald Stock, Konzernchef von Grünenthal, am Sitz des Pharmaunternehmens in Stolberg bei Aachen im Rahmen einer feierlichen Zeremonie ein Denkmal – die bronzene Skulptur eines kleinen Mädchens mit verkümmerten Armen und Beinen. Außerdem rang er sich gegenüber den Contergan-Geschädigten eine Entschuldigung dafür ab, dass Grünenthal so spät auf sie zugehe. Irgendwie habe man den Weg zu ihnen nicht gefunden, so Stock. Dennoch beharrte er darauf: »Grünenthal hat bei der Entwicklung von Contergan nach dem damaligen wissenschaftlichen Kenntnisstand gehandelt.« Wenige Tage später kündigte er an, man werde zudem eine neue Stiftung gründen, sie solle »das vor einem Jahr aufgelegte Programm zur Unterstützung von Härtefällen ergänzen«.
Die »Katastrophe« um Contergan hätte, wenn nicht vermieden, so doch viel früher erkannt und begrenzt werden können. Obwohl bereits Mitte 1958 die ersten »Contergan-Kinder« zur Welt kamen, dauerte es noch mehr als drei Jahre, bis der Zusammenhang zwischen der Einnahme des Wirkstoffs Thalidomid und den Fehlbildungen erkannt beziehungsweise eingeräumt wurde. Während in den USA eine für die »Food and Drug Administration« tätige Pharmazeutin 1960 die Verträglichkeit von Thalidomid in Zweifel zog und seine Zulassung verhinderte – einige Proben kamen dennoch in Umlauf –, suchte die Bundesregierung lange nach anderen Ursachen. Vermutet wurde unter anderem Radioaktivität als Grund. Ein echtes Arzneimittelrecht wurde erst in den Folgejahren geschaffen, wirksame Kontrollinstitutionen existierten nicht. Der Kinderarzt Widukind Lenz begann auf eigene Faust zu recherchieren und präsentierte sein Ergebnis im November 1961. Kurz darauf erschien ein Enthüllungsartikel in der Welt – am folgenden Montag war das Medikament nicht mehr in westdeutschen Apotheken erhältlich.
Aufgrund »geringfügiger Schuld der Angeklagten und mangelnden öffentlichen Interesses« wurde der Prozess, der 1968 vor dem Aachener Landgericht gegen Beteiligte von Grünenthal wegen vorsätzlicher Körperverletzung und fahrlässiger Tötung begann, im Dezember 1970 eingestellt. Grünenthal wurde nicht von jeder Schuld entlastet, doch Produkthaftung sollte offenbar keine Schule machen. An der Verteidigung von Grünenthal nahm die Anwaltssozietät von Josef Neuberger teil, der als nordrhein-westfälischer Justizminister oberster Dienstherr des Verfahrens war, das von einem zweifelhaften Deal begleitet wurde. Im April 1970 schloss Grünenthal einen Vergleich mit den Eltern der Geschädigten über 100 Millionen D-Mark. Eine Stiftung wurde eingerichtet. Das Geld kam jeweils zur Hälfte von Grünenthal und aus dem Bundeshaushalt. Aus diesem Fonds erhalten die Geschädigten bis heute eine Rente, die bis 2008 maximal 545 Euro betrug. 2009 wurde sie auf maximal 1 152 Euro angehoben, aber angesichts der Lebensumstände reicht sie bei weitem nicht aus.
Das Stiftungsmodell empfinden viele der heute noch etwa 2 700 in Deutschland lebenden Geschädigten als Versuch der Protektion der Firma Grünenthal. »Stellen Sie sich vor: Es gibt ein Bundesgesetz, damit werden sämtliche Ansprüche von schwerstgeschädigten Kindern, von Tausenden Opfern gegen eine einzelne Firma zum Erlöschen gebracht«, sagt Christian Stürmer vom Contergannetzwerk Deutschland e.V. Er spricht von einer »Enteignung« der Individualansprüche und fordert, die Bundesrepublik als Haftungsnachfolger in die Pflicht zu nehmen und auf Contergan-Geschädigte fortan das Soziale Entschädigungsrecht anzuwenden. Ähnlich sieht es Ilja Seifert, Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, der den Vergleich als »sittenwidrig« und »unter Druck zustande gekommen und Diktat zu Lasten Dritter« wertet, da die Eltern zwar das Erziehungsrecht gehabt hätten, nicht aber das Recht, auf alle Zeit hinaus für ihre Kinder Schadensersatzansprüche auszuschließen. Er will deshalb über den Bundestag eine Revision der Contergan-Entschädigung erreichen.
Grünenthal hat in der Vergangenheit nur auf öffentlichen Druck reagiert. So etwa nach der Ausstrahlung des WDR-Films »Contergan« im Jahr 2007, gegen den das Unternehmen erfolglos prozessierte. 2009 zahlte das Unternehmen einmalig weitere 50 Millionen Euro in die Stiftung ein. Als ernsthafte Bedrohung für das Unternehmen, das wirtschaftlich gut dasteht und eine Internationalisierung der Absätze anstrebt, könnten sich die Entschädigungsklagen in den USA erweisen, nicht nur wegen möglicher fälliger Zahlungen in für mögliche spätere Klagen exemplarischer Höhe, sondern auch im Hinblick auf das Firmenimage. In den USA wird Grünenthal sehr viel deutlicher mit der NS-Vergangenheit der Besitzerfamilie Wirtz und damaliger Wissenschaftler des Unternehmens konfrontiert. Anfang September titelte die Newsweek »The Nazis and Thalidomide: The Worst Drug Scandal of All Time« und schilderte Zusammenhänge zwischen Wirkstoffversuchen in Konzentrationslagern und dem späteren Contergan.
Ob die verdruckste Entschuldigung, das Denkmal und die neue Firmenstiftung deshalb Zeichen dafür sind, dass die derzeitige Firmenleitung »ein winziges bisschen freier« mit der Firmengeschichte umgehen könnte, wie Seifert meint, oder doch strategischem Kalkül folgen? Stürmer hat jedenfalls konkrete Vorstellungen: »Von der Firma Grünenthal fordern wir, dass sie ihre Härtefallgeschichten, also diese Bettelkonstruktion, die sie da aufgebaut haben, einstellen und diese Beträge verwenden, um den Geschädigten endlich mal ein Schmerzensgeld zu zahlen.« Zumindest will er Leistungen durchsetzen, die andere Geschädigte in ähnlichen Situationen bekämen, beispielsweise Kriegsversehrte, Unfallgeschädigte oder pharmazeutisch Geschädigte. Mittlerweile hat das Contergannetzwerk Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. Über die Zulassung soll noch bis Ende des Jahres entschieden werden.
Quelle: http://jungle-world.com/artikel/2012/40/46324.html
Grünenthal beharrt auf Unschuld - Entschuldigung, die keine ist und unser Gedenken
Eine Gruppe des Contergannetzwerkes Deutschland e.V. im Deutschen Bundestag zu politischen Gesprächen mit Abgeordneten
Contergan – der Skandal setzt sich fort!
Contergan, mit dem Wirkstoff Thalidomid, wurde im Oktober 1957 von der Firma Grünenthal insbesondere auf den deutschen Markt gebracht. Grünenthal hat überdies verschiedene entsprechende Lizenzen an ausländische Hersteller vergeben. Von diesem Präparat „Contergan“ wurden weltweit ca. 10.000 Embryonen geschädigt. Hiervon waren in Deutschland ca. 7.000 Kinder betroffen, von denen heute noch ca. 2700 Personen leben. Indessen sind die Betroffenen Mitte 50 und leben großteils ohne Arme und/oder ohne Beine oder mit weiteren wesentlichen Behinderungen.
Der deutsche Staat hat sich im Conterganskandal zum Mitschädiger gemacht, indem er „Contergan“ nicht nur wider besserer Erkenntnis verspätet vom Markt genommen, sondern sämtliche Ansprüche gegen die Schädigungsfirma Grünenthal, mit § 23 Abs. 1 des Gesetzes zur Errichtung der Conterganstiftung für behinderte Menschen, welche die Conterganrenten auszahlt, ausdrücklich zum Erlöschen brachte und es zuließ, bzw. durch sein Handeln bewirkte, dass die Conterganopfer damit weitgehend mittellos dastanden und über 50 Jahre bei den Sozialämtern um das Mindeste kämpfen mussten.
Nachdem entsprechend der Firma Grünenthal per Gesetz ihre Verpflichtungen erlassen worden sind, braucht Grünenthal keinen Cent mehr zu zahlen, weshalb nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 42,263) der Staat selbst in der Pflicht steht.
Contergangeschädigte erhielten bis zum 01.07.2008 je nach Schädigungsgrad monatliche Renten, von höchstens 545 Euro. Indessen avancierte die Eigentümerfamilie von Grünenthal zur dreißig reichsten Familie Deutschlands. die es in den Jahrzehnten nach Stiftungsgründung weder für nötig befand, freiwillige Zahlungen zu leisten oder sich zu entschuldigen. Erst der Contergan-Fernsehfilm "Eine einzige Tablette" löste für die Contergangeschädigten eine "kleine Revolution" und Druck auf die Politik und Grünenthal aus. Die Politik "verdoppelte" eilig zum 1.7.2008 die Renten und auch Grünenthal erbrachte eine "Spende" von 50 Mio. Euro.
Während hiernach die Conterganrenten 1127 Euro, wohlgemerkt: im Höchstsatz, also im Schädigungsgrad für Personen ohne Arme und/oder ohne Beine betragen, wurden die 50 Millionen Euro aber nicht ausgezahlt, sondern, auf Verlangen von Grünenthal, auf 25 Jahre verteilt, wonach ein Schwerstgeschädigter (z.B. keine Gliedmaßen) hiervon umgerechnet monatlich 300 Euro und Personen ohne Arme oder ohne Beine, mit weiteren wesentlichen Behinderungen, mtl. rd. 191 Euro erhielt. Alleine die Pflegekosten für eine Person, die weder Arme, noch Beine hat, betrugen rd. 12.000 Euro im Monat.
Erst im Jahr 2013 fand ein Paradigmenwechsel in der Behandlung der Geschädigten statt.
Nach über 50 Jahren der Unterversorgung der Geschädigten wurden erstmals im Jahr 2013 Renten zuerkannt, womit die Geschädigten weitgehend ein selbstbestimmtes Leben zu führen in der Lage sind. Dies bedeutete für die Conterganopfer ein Paradigmenwechsel in ihrer Behandlung durch den Staat, über den sie sich freuen und den sie sehr wohl ausdrücklich würdigen.
Allerdings bleiben eine Vielzahl von Problemen ungeklärt: Zum Beispiel ist die Versorgung der Personen, die sich jahrzehntelang aufopferungsvoll für den Staat um die Geschädigten gekümmert haben ungesichert. Während selbst im Sozialen Entschädigungsrecht, zum Beispiel für Impfgeschädigte und Soldaten, eine Hinterbliebenenversorgung vorgesehen ist, so drohen die Personen, die sich jahrzehntelang aufopferungsvoll für die Verpflichtungen des Staates gekümmert haben, oft auch keine Rentenansprüche aufbauen konnten, im Falle des Versterbens der Geschädigten, völlig unversorgt zurückzubleiben.
Die Geschädigten betrachten es überdies als tragisch, dass die Ministerialbürokratie den mit dem 3. Conterganstiftungsänderungsgesetz eingeleiteten Paradigmenwechsel des Gesetzgebers nicht nachvollzogen hat.
Nach wie vor werden die Geschädigten nicht „auf Augenhöhe“ behandelt, wies den ursprünglichen Übereinkünften gerecht wurde:
Angesichts der Mitschuld des Staates (er musste als letztes Land im gesamten EWR-Raum zum Erlass von Arzneimittelschutzgesetzen durch die Römischen Verträge gezwungen werden - vier Gesetzgebungsverfahren sind aufgrund des Einflusses der Pharmaindustrie gescheitert) wurde die Stiftung - als Schnittstelle zwischen Staat und den Geschädigten – etabliert.
In diesem Gesamtpaket der Vereinbarungen zur Stiftungslösung (Enteignung mit § 23 Abs. 1 Errichtungsgesetz, Einzahlung der 100 Millionen Euro der damaligen Contergankinder, die Grünenthal bereits geleistet hatte) war gleichsam das Versprechen enthalten, das die Geschädigten adäquat am Stiftungsgeschehen beteiligt werden. Warum auch sonst bräuchte man eine Stiftung? Diese Vereinbarungen werden bis heute nicht erfüllt!
Gerade die Strukturen, der im Kindesalter der Geschädigten, Anfang der 1970er Jahre gegründeten Stiftung bedürfen einer dringenden Demokratisierung und zwar in einer Weise, die nicht nur den Umgang mit den Geschädigten in der Vergangenheit ausreichend reflektiert, sondern selbstverständlich auch der unter dem Leitsatz zusammengefassten modernen Behindertenpolitik Rechnung trägt:
„Nichts ohne uns über uns“.
Contergannetzwerkes Deutschland e.V.
durch: Christian Stürmer
Vorsitzender