EGMR macht Druck auf Berlin wegen lahmer Justiz
Straßburg/Berlin (dpa) - Deutschland muss so schnell wie möglich ein wirksames Beschwerderecht gegen überlange Gerichtsverfahren einführen. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am Donnerstag in Straßburg. Fehlende Rechtsmittel gegen überlange Verfahren seien in Deutschland ein strukturelles Problem, hieß es in dem Urteil.
Nach jahrelangen folgenlosen Ermahnungen aus Straßburg hat das Bundeskabinett im August einen entsprechenden Gesetzesentwurf beschlossen. Konkret sei die Situation jedoch noch nicht verbessert worden, monierten die Richter in Straßburg.
Nach dem Gesetzentwurf sollen die Betroffenen künftig Entschädigungen einklagen können. Zuvor muss das Gericht allerdings mit einer Rüge auf die Verzögerung hingewiesen werden. Für die Entschädigung sind in dem Entwurf 1200 Euro pro Jahr als Richtwert angegeben. Das Gericht hat aber die Möglichkeit, davon abzuweichen.
Derzeit sind vor dem EGMR etwa 55 Beschwerden wegen zu langer Verfahren anhängig, und es werden immer mehr. Die Verstöße gegen das Grundrecht auf ein «faires Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist» der Europäischen Menschenrechtskonvention «resultieren aus einem Versäumnis der Regierung», hieß es in dem Urteil.
Der Gerichtshof befand, dass Deutschland «spätestens innerhalb eines Jahres nach Rechtswirkung des Urteils vom Donnerstag einen wirksamen Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren einführen muss». Das Urteil wird in drei Monaten rechtskräftig, sofern kein Verweis an die große Kammer des EGMR beantragt wird. Dann ist es für Deutschland bindend. Es kann auch schneller rechtskräftig werden: sobald das Justizministerium in Berlin erklärt, dass es auf eine Prüfung durch die große Kammer des Straßburger Gerichts verzichtet.
Der vorliegende Fall in Straßburg betraf ein über 13-jähriges Verfahren vor deutschen Verwaltungsgerichten über einen - letztendlich erfolglosen - Antrag auf einen Waffenschein. Überlange Verfahren machen mehr als die Hälfte aller Urteile gegen Deutschland aus. Deshalb wandten die Straßburger Richter erstmals ein sogenanntes Piloturteil an, das für «große Gruppen ähnlich gelagerter Fälle» entwickelt wurde.
In einem zweiten Urteil hat der Gerichtshof die Verwendung von GPS-Überwachung («Global Positioning System») bei Ermittlungen legitimiert. Diese Überwachung ist nach Einschätzung des Gerichtshofes mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar. Dagegen geklagt hatte ein früheres Mitglied der linksextremistischen «Antiimperialistischen Zelle» (AIZ). Der heute 44-Jährige aus Mönchengladbach war 1999 in Düsseldorf wegen mehrerer Sprengstoffanschläge zu 13 Jahren Haft verurteilt worden. Der EGMR hat nun seine Beschwerde zurückgewiesen.
Quelle: sueddeutsche.de - erschienen am 02.09.2010 um 15:56 Uhr
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