Hier der Artikel als reiner Text:
Contergan-Opfer: Ich bin einer
der Letzten, die es erwischt hat
Stephan Hafeneth aus dem Landkreis Gifhorn hat keine Arme - Geschädigte kämpfen um eine Entschädigung
Von Dieter Prüschenk
Der 47-jährige Stephan Hafeneth ist ein Contergan-Opfer, hat seit der Geburt keine Arme. Das tägliche Leben meistert der Bromer mit Zehen und Zähnen. Gemeinsam mit anderen Opfern kämpft er um eine angemessene finanzielle Entschädigung.
"Ach, ich will ja gar keine Weltreise machen", sinniert Stephan Hafeneth bei unserem Besuch bei ihm zu Hause in Brome im Landkreis Gifhorn. "Aber einfach mal ganz normale Dinge tun, das wäre klasse." Einmal selbst zu kochen oder zu fotografieren ist ein Traum des Bromers. Doch das wird für ihn ein Traum bleiben, sich wohl niemals verwirklichen lassen.
Denn der 47-Jährige hat von Geburt an keine Arme, nur kurze Gliedmaßen hängen schlaff an den Schultern: Hafeneth ist ein Contergan-Geschädigter. Opfer einer der größten Arzneimittel-Katastrophen der Geschichte.
So ist der Bromer bei den normalen Dingen des täglichen Lebens eingeschränkt. Doch mit Hilfe seiner Zähne, sie nutzt er zum Tragen, und seines rechten Fußes meistert er Vieles: "Mit meinen Zehen klappt es ganz gut, ob nun Essen oder Anziehen, Haarewaschen, Zähneputzen oder Rasieren."
Auch das Schreiben ist für ihn kein Problem. Zwischen den Zehen hält er dabei den Stift. Und flink tippt er mit dem großen Zeh auf der Computertastatur. Seinen linken Fuß kann Hafeneth dafür nicht gebrauchen: "Das Bein ist um 25 Zentimeter kürzer." Nur Knöpfe öffnen und schließen "oder eine Schleife binden kann ich nicht". Da sei er auf die Hilfe anderer angewiesen - wie etwa bei der Hausarbeit oder beim Autofahren.
"Ich bin einer der Letzten, die es erwischt hat", stellt Hafeneth lapidar fest. "Ein Teelöffel Saft zerstörte mein selbstbestimmtes Leben - für immer." Sein Vater habe damals unter Schlafstörungen gelitten. "Und damit meine Mutter mal zur Ruhe kam, hat sie ein Schlafmittel genommen und das war zufällig Contergan", erklärt Hafeneth die Situation seiner Eltern im Herbst 1961.
Mit fataler Wirkung: Das in Contergan enthaltene Thalidomid verursachte insbesondere in der vierten bis sechsten Schwangerschaftswoche verheerende Kindesmissbildungen. "Meine Mutter wusste damals nicht, dass sie mit mir schwanger war."
So wurde Stephan Hafeneth durch diesen einen Teelöffel Contergan-Saft eines von weltweit tausenden Kindern, die mit verstümmelten Gliedmaßen geboren wurden.
Die ersten Jahre seines Lebens verbrachte Hafeneth - wie fast alle seine Leidensgenossen - in diversen Kliniken. "Als wir etwas älter wurden, haben sie an uns stundenlang Prothesen ausprobiert", erinnert er sich. "Ich brachte damals vielleicht 20 Kilo auf die Waage. Aber die Prothese wog so um die 40 Kilo." Ein völliger Wahnsinn und eine riesige Quälerei für ihn sei das gewesen. "Aber das stundenlange Umdrehen von Memory-Karten hat mein Gedächtnis hervorragend geschult."
Ein Vorteil, der sich in Schule und Studium auszahlte. "Ich war ein guter Schüler und ein sehr guter Student", erinnert sich Hafeneth. "In Köln, später in Aachen, habe ich Politologie und Literaturwissenschaften studiert." Das Studium zog sich über 26 Semester hin. "Nicht das Lernen war schwierig, das drumherum war wahnsinnig anstrengend."
Er wäre gerne Sportjournalist geworden, erzählt Hafeneth von seinen damaligen Berufswünschen. "Ich habe nie gelitten und mich immer durchgesetzt. Deshalb traute ich mir das auch durchaus zu."
Doch ein einziges Telefonat mit einem Fernsehsender habe ihn wieder brutal in die Realität zurückgeholt: "Bei ihren Zeugnissen ist das kein Problem", habe der RTL-Mann erklärt. "Als ich ihm dann sagte: Ich habe keine Arme, hörte ich zunächst nur seinen Atem und dann kam die barsche Antwort: Da brauchen Sie hier gar nicht erst anzutreten." Doch aus Niederlagen ist der alleinerziehende Vater von drei Kindern im Alter zwischen 8 und 13 Jahren bisher immer gestärkt hervorgegangen. So scheut er sich nicht, für seine Rechte zu kämpfen.
"Artikel 3 des Grundgesetzes garantiert, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf", stellt Hafeneth fest. So müsse auch für ihn ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden.
"Es ist doch eine Schande, dass wir Opfer heute auf das Niveau von Sozialhilfeempfängern abgeschoben werden", erzürnt sich Hafeneth. "Überall auf der Welt werden Contergan-Opfer finanziell besser unterstützt als bei uns in Deutschland."
Der 47-Jährige ärgert sich darüber, "dass der Staat seinen Versorgungspflichten uns gegenüber nicht nachkommt". Denn 1972 habe der Bundestag per Gesetz festgelegt, dass Geschädigte keine Ansprüche gegen den Conterganhersteller Grünenthal geltend machen können. "Damit hat der Staat die Rechtsnachfolge des Unternehmens übernommen, das die Katastrophe verursacht hat."
Das Chemieunternehmen Grünenthal zahlte damals 100 Millionen Mark Entschädigung, der Staat die gleiche Summe. Diese Mittel reichten bis 1997 für die Rentenzahlungen an die Opfer. Seitdem werden die Renten aus Steuermitteln aufgebracht. Mitte 2009 verdoppelte der Bundestag die monatlichen Zahlungen auf höchstens 1116 Euro. Zudem werden jährlich 3500 Euro Sonderzahlungen aus Stiftungsmitteln geleistet.
"Aber das reicht hinten und vorne nicht", sagt Hafeneth. "Ich habe mal ein persönliches Budget für mich aufgestellt. Dabei komme ich auf einen Bedarf von 8500 Euro netto pro Monat." Im Grunde müsse er drei Personen beschäftigen: Einen persönlichen Assistenten, einen Fahrer und eine Haushaltshilfe: "Denn wie soll ich zum Beispiel eine Glühbirne auswechseln?"
Hafeneth ist Mitglied eines Contergan-Netzwerks. "Gemeinsam mit anderen Geschädigten habe ich kürzlich eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht gegen das Gesetz eingereicht", erklärt Hafeneth. Dabei gehe es nicht um eine Besserstellung gegenüber anderen Behinderten. "Aber durch den gesetzlichen Haftungsausschluss sind für uns alle sonst üblichen Regressansprüche gegenüber Grünenthal unmöglich geworden."
Bei seiner monatlichen Budgetrechnung seien die Kosten für die Folgeschäden noch nicht einmal enthalten. "Und jetzt fallen mir auf einmal die Zähne aus. Kein Wunder, denn mit ihnen musste ich mein Leben lang alles mögliche tragen" sagt der Bromer. "Wer zahlt jetzt die rund 40000 Euro für die Sanierung?" Die Krankenkasse habe bereits abgelehnt.
"Wenn wir vor dem Verfassungsgericht scheitern sollten, gehen wir bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte."
Braunschweiger Zeitung: 28. August 2009, Hintergrund, Seite 03