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FOCUSonline schrieb:
Jeden Tag Schmerzen
Montag, 12.11.2012 · von J. REINHARD und J. BLAGE
Eine Studie an der Universität Heidelberg macht deutlich, wie stark die Opfer des Contergan-Skandals unter den Folgeschäden leiden.
Rugby ist Udo Herterichs Leidenschaft, Rollstuhl-Rugby um genau zu sein. Doch für den 50-Jährigen ist jeder Ausflug, jeder Nachmittag außer Haus ein Kraftakt. „Die Strafe kommt direkt – in Form von Schmerzen“, berichtet er. Herterich ist contergangeschädigt, sein Körper von den jahrelangen Fehlbelastungen zermürbt.
Wie ihm geht es rund 2400 Menschen in Deutschland
Diese Männer und Frauen sind die Überlebenden des größten Medikamentenskandals der deutschen Nachkriegszeit: Von 1957 bis 1961 hat der Stolberger Arzneimittelhersteller Grünenthal das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan vertrieben und auch Schwangeren empfohlen. Doch der Wirkstoff Thalidomid führte bei Ungeborenen zu teils schwersten Fehlbildungen und Nervenschäden. Von den 5000 „Contergankindern“, die zur Welt gekommen sind, verstarb fast die Hälfte kurz nach der Geburt oder im Säuglingsalter.
Contergangeschädigte haben schon früh gelernt, kreativ zu sein, um den Alltag selbstständig zu meistern: mit den Zehen Knöpfe schließen, mit den Zähnen Flaschen öffnen? Das war normal. Doch jetzt – ein Großteil der Conterganopfer ist über 50 – rächt sich die ständige Überbelastung von Gelenken, Wirbelsäule und Zähnen. Viele Geschädigte müssen in Frührente gehen. Mit der Folge, dass das Geld für Haushaltshilfen, Umbauten oder Therapien knapp wird. Wenn dann noch die Eltern sterben, droht das fragile System, das einen Alltag überhaupt erst möglich macht, zu zerbrechen.
„Viele fühlen sich wie ein Hamster im Rad. Man muss funktionieren, man muss weiter arbeiten gehen, um sich wichtige Hilfsmittel leisten zu können“, sagt Herterich, der dem Interessenverband Contergangeschädigter NRW vorsitzt. Schmerzmittel sind oft die einzige Lösung. So auch bei seiner Frau: Claudia Schmidt-Herterich dämpft das permanente Stechen in ihrer Hüfte mit Morphium. Eine OP kommt für die 51-Jährige trotzdem nicht in Frage. „Ich würde die Bewegungsfreiheit meiner Beine und damit meine Selbstständigkeit verlieren“, erklärt die Diplom-Psychologin.
255 bis 1152 Euro monatliche Rente stehen Conterganopfern je nach Schädigungsgrad zu
Zusätzlich zahlt die Conterganstiftung für behinderte Menschen, die sich aus Spenden der Firma Grünenthal und Geldern des Bundes speist, einmal im Jahr bis zu 3680 Euro aus. Das ist nach Meinung der Geschädigten zu wenig. Seit Jahren kämpfen sie für mehr Geld – und das Recht auf ein würdevolles Altern. Eine Studie im Auftrag der Bundesregierung könnte ihren Forderungen jetzt Schubkraft verleihen.
870 Opfer des Conterganskandals haben Forschern am Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg Auskunft über ihre Sorgen, Nöte und Bedürfnisse gegeben. Die Zwischenergebnisse der Studie sind ernüchternd: Die Selbstständigkeit eines 50-jährigen Contergangeschädigten entspricht der eines 70- bis 80-Jährigen. Schmerzen gehören für 84,7 Prozent der Befragten zum Alltag. Bei der Hälfte der Studienteilnehmer reicht das Geld für Hilfsmittel wie Rollstühle, Hörgeräte oder höhenverstellbare Arbeitsplätze nicht aus. Über 70 Prozent bleiben auf einem Teil der Kosten für Massagen oder Krankengymnastik sitzen.
Die Empfehlungen der Heidelberger Forscher lauten: ein finanzieller Ausgleich für Frührentner, Kostenübernahme für Therapien und Betreuung sowie eine wissenschaftliche Untersuchung der Spätschäden. „Endlich ist durch neutrale Außenstehende bestätigt, wie schlecht unsere Situation wirklich ist“, sagt Margit Hudelmaier, Vorsitzende des Bundesverbands Contergangeschädigter.
Die Sprengkraft der Studie ist den Forschern bewusst
Bis zur Abnahme durch die Conterganstiftung Anfang 2013, äußert sich das Team um Studienleiter Andreas Kruse nicht zu den Ergebnissen. Wie das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Anfrage mitteilte, werden die Ergebnisse der Heidelberger Studie in die Neuerung des Conterganstiftungsgesetzes einfließen. Über konkrete Gesetzesänderungen werde man allerdings erst beraten, wenn der Abschlussbericht vorliege.
Suche nach Lösungen
Große Löcher klaffen aber nicht nur bei der finanziellen Versorgung: „Es gibt nur eine Hand voll Ärzte, die sich mit den körperlichen Eigenheiten Contergangeschädigter auskennen“, erläutert Herterich. Nerven, Muskeln und Blutgefäße verlaufen anders. Ein Routineeingriff kann lebensgefährlich werden. Deshalb war schon 2008 der Aufbau eines Expertennetzwerks angeregt worden. Darauf warten die Opfer noch immer.
Grünenthal hatte 1970 mit den Eltern der geschädigten Kinder einen Vergleich geschlossen
Das Unternehmen zahlte 100 Millionen Mark in das 1972 gegründete „Hilfswerk für behinderte Kinder“ (seit 2005 „Conterganstiftung für behinderte Menschen“) ein. Im Gegenzug verzichteten die Eltern auf weitere Regressforderungen. 2009 lies die Firma der Stiftung weitere 50 Millionen Euro zukommen.
2011 hat Grünenthal einen internationalen Härtefallfonds eingerichtet. Opferverbände sind kritisch: „Bei der Vergabe von Geldern herrscht absolute Willkür“, klagt Hudelmaier. Unklar sei, wofür der Fonds genutzt werden dürfe, wer ihn in Anspruch nehmen könne und wie hoch die Summen seien, die die Firma zahlt. „Wir haben mit den Antragstellern vereinbart, zum finanziellen Rahmen der Unterstützung nichts zu sagen“, erklärt Grünenthal-Sprecherin Cornelia Kompe. Mehr als 100 Anfragen seien bislang eingegangen. Über 70 Menschen habe man bereits geholfen.
Innovative Lösungen sucht Beate Seewald, Leiterin des Projekts „akrobatik@home“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. „Wir wollen für stark bewegungseingeschränkte Menschen technologische Hilfsmittel entwickeln, die deren Alltag erleichtern“, erklärt die Diplom-Kauffrau. Das Besondere an der Idee, die aus dem Forschungsprojekt „Discover Markets“ entstanden ist: Contergangeschädigte wirken an dem Entwicklungsprozess mit.
In Workshops haben sie Probleme zu Hause und am Arbeitsplatz ausgemacht
Frei von Gedanken an Kosten oder Umsetzung wurden daraus Produktideen entwickelt – vom elektronischen Dokumentenbeutel für unterwegs bis zum „iBed“, einem interaktiven Erlebnisplatz. Ingenieure haben diese Ideen auf ihre technische Machbarkeit getestet. „Das Ergebnis ist ein mobiles Tablet-System, auf dem persönliche Dokumente und Tickets gespeichert werden können. Dank Sensortechnik und Sprachsteuerung ist auch ein individuelles Bewegungstraining möglich“, berichtet Seewald. Nun soll der Prototyp entstehen. Ob High-Tech-Helfer oder politische Entscheidungen – die Opfer des Skandals wünschen sich mehr Tempo. „Uns läuft die Zeit davon“, sagt Herterich.
Chronik des Skandals
> 1. Oktober 1957: Grünenthal startet den Verkauf des Schlafmittels Contergan.
> 27. November 1961: Das Stolberger Unternehmen nimmt die Arznei vom Markt.
> 27. Mai 1968: Das Gerichtsverfahren gegen Grünenthal beginnt. Der Prozess mündet in einen Vergleich.
> 31. Oktober 1972: Gründung der Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“. Sie verwaltet die Entschädigungssumme von Grünenthal und Gelder des Bundes.
> Mai 1997: Die Vermögenswerte der Stiftung sind auf- gebraucht. Der Bund zahlt die Conterganrenten künftig allein.
> 1. Juli 2008: Die Conterganrente wird verdoppelt.
> 31. August 2012: Grünenthal entschuldigt sich – aber nur dafür, 50 Jahre nicht „den Weg von Mensch zu Mensch“ gefunden zu haben.