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THEMA: Contergan-Experimente an Kindern

Contergan-Experimente an Kindern 18 Nov 2021 19:22 #48695

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Contergan-Experimente an Kindern: Caritas legt Dokumentation vor
Themen:CaritasContergan

Von: rwm 18. November 2021
Nach Medikamentenversuchen in der Caritas-Lungenheilanstalt Maria Grünewald in Wittlich (Rheinland-Pfalz) zu Contergan liegt nun eine Dokumentation der Aufarbeitung vor. Dies gab die St. Raphael Caritas Alten- und Behindertenhilfe (CAB) am Donnerstag bekannt.

Contergan-Studie in der ehemaligen Heilstätte Maria Grünewald in Wittlich veröffentlicht. Die Studie mit dem Beruhigungs- und Schlafmittel war in den Jahren 1959 und 1960 in der Heilstätte durchgeführt worden. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist sie seit August 2020 durch die Berichterstattung in den Medien. Die Wirkung von Contergan wurde in der Heilstätte an insgesamt 302 tuberkulosekranken Kindern im Alter von zwei bis 14 Jahren erprobt. Das Medikament sollte die „Ruhigstellung des Patienten“ während der Liegekur unterstützen, die damals noch als zentraler Bestandteil der Tuberkulosebehandlung galt. Contergan wurde den Kindern aber auch bei Heimweh und zur Einhaltung der Nachtruhe verabreicht. Die Ergebnisse der Studie wurden Ende 1960 in einer medizinischen Fachzeitschrift veröffentlicht.
Medizinhistoriker weist Skandalieren der Studie zurück

„Die in der medialen Berichterstattung erfolgte Skandalisierung der Studie bestätigt sich bei der Betrachtung im historischen Kontext nicht. Im Wesentlichen handelte es sich bei den Versuchen um therapeutische Forschung, die den wissenschaftlichen und medizinischen Standards ihrer Zeit entsprach und, zumindest aus Perspektive der Durchführenden, medizinisch indiziert und kaum mit Risiken verbunden war“, urteilt der Medizinhistoriker Dr. David Freis (Universität Augsburg). Die Kinder in Maria Grünewald seien nicht Teil eines medizinischen Versuchs gewählt, „weil sie der Aufsicht ihrer Eltern entzogen und damit wehrlos waren, sondern weil innerhalb eines therapeutischen Rahmens mit dem Ziel der Verbesserung der Behandlung geforscht wurde“.

Die Einbeziehung von Kleinkindern begründe sich laut Fries damit, dass bei ihnen eine Tuberkuloseerkrankung diagnostiziert worden waren, zu deren Behandlung eine Liegekur angezeigt schien. „Materielle Interessen seitens der durchführenden Ärztin waren anscheinend unerheblich“, so Fries. Der Hersteller Grünenthal habe sich mit dem Ziel einer Erprobung seines Produkts für den Einsatz in Kinderheilstätten innerhalb üblicher marktwirtschaftlicher Erwägungen bewegt. „Die von Report Mainz erhobenen Vorwürfe eines Missbrauchs von Kleinkindern für Medikamententests treffen daher nicht zu. Als problematisch erscheint jedoch, dass die Sedierung auch über eine eindeutige medizinische Indikation hinaus zur Einhaltung der Nachtruhe und bei Heimweh erfolgte“, erklärt Fries. Während es auf Grundlage der vorliegenden Quellen keine Hinweise darauf gebe, dass die Medikamentengabe auch zur Bestrafung erfolgte, decke sich „dieser disziplinierende Einsatz mit dem Bild einer Institution, die strengen Regeln unterworfen war und heutigen pädagogischen Vorstellung nicht mehr entsprechen würde“.
80 Zeitzeugen haben sich bei der Caritas gemeldet

Als heutiger Träger der Einrichtung Maria Grünewald hat die St. Raphael CAB die Aufarbeitung federführend übernommen. Der Caritasverband für die Diözese Trier war als damaliger Träger der Einrichtung und als Gesellschafter der St. Raphael CAB eingebunden. „Die Aufarbeitung der Studie ist in erster Linie für die Betroffenen gedacht“, sagte Caritas-Pressesprecher Tobias Möllney gegenüber Neues Ruhrwort. Über 80 Zeitzeugen haben sich den Angaben zufolge bislang bei der Caritas gemeldet. Mehr als 20 von ihnen könnten aufgrund des angegebenen Behandlungszeitraums in der Heilstätte von der Studie betroffen sein“, so Möllney. „Die Dokumentation zeig nicht nur unsere Aktivitäten und Erkenntnisse, sondern auch verschiedene Einschätzungen zur Contergan-Studie. Damit kann sich die Leserschaft selbst ein Bild machen und eine eigene Meinung bilden.“

Mit der nun abgeschlossenen Aufarbeitung der Contergan-Studie wolle die Caritas ihre „Verantwortung wahrnehmen, besonders den Betroffenen gegenüber“. „Wir waren überwältigt davon, wie viele Zeitzeugen, vor allem ehemalige Patienten der Heilstätte, sich seit August 2020 bei uns gemeldet haben. Sie haben uns ihre Meinung gesagt, Fragen gestellt und Aufklärung gefordert. Viele von ihnen haben uns von ihren Erlebnissen in der Heilstätte erzählt. Die Berichte der Zeitzeugen haben wir in einem eigenen Kapitel zusammengefasst“, so Möllney.
„Erhebliche Mängel der Forschungsethik und des Arzneimittelrechts in der frühen Bundesrepublik“

Die Dokumentation enthält auch eine Stellungnahme des Medizinhistorikers Dr. David Freis, der die Studie in den historischen Kontext einordnet, sowie Informationen des Contergan-Herstellers Grünenthal. Er betont, „dass die 1959/1960 in Maria Grünewald durchgeführte Contergan-Studie heute gültigen ethischen und rechtlichen Normen für die Forschung am Menschen, und insbesondere an Kindern als besonders vulnerabler Gruppe, nicht genügen würde und dem heutigen Verständnis des Medikamenteneinsatzes bei Kindern in erheblichem Maße widerspricht.“

Werde die Studie in ihrem historischen Kontext betrachtet, biete sich jedoch ein anderes Bild: „Die Durchführenden bewegten sich im Wesentlichen innerhalb eines Rahmens, der durch das zeitgenössische Verständnis des Arzt-Patient-Verhältnisses und der ethischen Normen für Versuche am Menschen, durch die damals geltenden rechtlichen Regelungen und durch die damals übliche Praxis medizinischer Forschung abgesteckt wird.“ Wenngleich manche Teile der Studie sich offenbar „außerhalb einer medizinischen Indikation bewegten“, sei diese „grundsätzlich durch den Kontext der Liegekur zu Behandlung der Tuberkulose“ gegeben gewesen. Für Fries sind die in der medialen Berichterstattung erhobenen Vorwürfe „nicht haltbar“. Die Studie zeige jedoch „sehr deutlich die erheblichen Mängel der Forschungsethik und des Arzneimittelrechts in der frühen Bundesrepublik auf“. Sie erinnere daran, „dass medizinische Forschung auch in der Gegenwart expliziter und anerkannter ethischer Normen, klarer gesetzlicher Regelungen und einer fortwährenden kritischen Reflexion“ bedürfe.
Die Dokumention zu der Einrichtung Maria Grünewald steht zum Download im Internet bereit.
Stichwort: Contergan

Es wurde als sicheres Medikament gegen Schlaflosigkeit angepriesen. Doch bei Schwangeren hatte die Einnahme von Contergan verheerende Folgen: Sie führte zu Totgeburten und bei etwa 5.000 bis 10.000 Säuglingen zu Missbildungen. Vor 60 Jahren nahm die Aachener Herstellerfirma Grünenthal das Medikament vom Markt – vier Jahre nach Einführung des Schlafmittels. 1957 hatte das Unternehmen das Präparat auf den Markt gebracht. Es verdichtete sich der Verdacht, dass der Wirkstoff Thalidomid die Ursache für die Fehlbildungen ist. Schließlich zog Grünenthal am 27. November 1961 das Medikament zurück. Nach wie vor streitet der Bundesverband Contergangeschädigter mit dem Unternehmen und der Eigentümerfamilie Wirtz um die Anerkennung von Schuld.
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