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Jagd auf den Conterganoven
27. April 2010
Ein halbes Jahrhundert lang rätselten Forscher, warum Thalidomid teratogen wirkt. Nach vielen Studien und falschen Fährten scheint die Lösung gefunden, wie es zu den den Missbildungen nach der Einnahme von Contergan-Tabletten kommen konnte.
Die Geschichte vom kometenhaften Aufstieg, dem tiefen Fall sowie Tätern und Opfern wurde vor drei Jahren verfilmt. 2008 verdiente sich die Produktion den Deutschen Fernsehpreis und die Goldene Kamera, davor bekam sie den begehrten Bambi. Die Bösen: Eine deutsche Pharmafirma. Die Opfer: Neugeborene mit verkrüppelten Armen und Beinen. Der Hauptdarsteller: Ein Medikament namens Contergan. Der Wirkstoff: Thalidomid.
Angeln mit magnetischen Nanopartikeln
Trotz intensiver Spurensuche stand bis vor kurzem nicht fest, auf welche Weise der Täter seine Opfer angriff. Wie konnte aus dem anfangs hochgepriesenem Sedativum für Schwangere ein Mittel werden, das rund 10 000 behinderte Kinder hinterließ. 40 Prozent der Babies mit Missbildungen starben während ihres ersten Lebensjahrs. Eine japanische Arbeitsgruppe scheint der Aufklärung des Tathergangs nun ein ganzes Stück näher gekommen zu sein. In Tierversuchen fanden Hiroshi Handa vom Tokyo Institute of Technology und seine Mitarbeiter, dass die Bindung von Thalidomid an das bisher wenig erforschte Protein Cereblon dazu führt, dass sich Gliedmaßen nicht richtig entwickeln.
Wie schon der Hersteller Grünenthal vor 50 Jahren erkennen musste, erlauben toxikologische Tests an Mäusen und Ratten nicht immer zuverlässige Voraussagen für die Wirkung am Menschen. Handas Team suchte sich daher ein anderes Tiermodell aus. Embryos des Zebrabärblings entwickeln sich in einer transparenten Hülle, die entsprechende Defekte sofort sichtbar macht. Zuerst jedoch fischten die Wissenschaftler mit magnetischen Nanopartikeln, auf deren Oberfläche sie Thalidomid gebunden hatten, nach dem entsprechenden Bindungspartner. „Wir waren sehr überrascht“, so Handa, als sie damit aus dem Zellextrakt im Reagenzglas ein Protein isolierten, das bisher in der Embryonalentwicklung keine bedeutende Rolle zu spielen schien. Cereblon wiederum bindet mit weiteren Proteinen einen „Ubiquitin-Ligase“-Komplex. Thalidomid schaltet diese Aktivität aus.
Cereblon: Notwendig für intakte Extremitäten
Tatsächlich zeigte sich bei den Fischen als auch bei Küken, dass erst die Bindung von Thalidomid an Cereblon die Missbildung von Flossen und Beinen auslöste. Eine Veränderung in der Cereblon-DNA der Zebrabärblinge lässt diese Reaktion nicht mehr zu – und rettet die Gliedmaßen der Embryos auch bei Thalidomid-Gabe. Bauten die Forscher humanes Cereblon mit der homologen Mutation bei den Vögeln ein, ließen sich auch dort Missbildungen verhindern.
Noch immer werden Contergan-Kinder geboren
Diese Erkenntnisse haben aber nicht nur historischen Wert bei der Aufklärung der Contergan-Tragödie. Sie könnten auch die „zweite“ Karriere von Thalidomid beeinflussen.
1961 verschwand Contergan vom Markt. Dennoch gibt es jedes Jahr viele Neugeborene, die Thalidomid in der Schwangerschaft auf dem Gewissen hat. Denn bereits drei Jahre nach dem Verbot als Schlafmittel entdeckte Jacob Sheskin in einer französischen Klinik, dass eine übriggebliebene Charge des Medikaments gegen Erythema Nodosum Leprosum (ENL) wirkt, eine schmerzhafte Begleiterscheinung bei Lepra. Noch heute bekommen in Entwicklungsländern Erkrankte den effektiven Wirkstoff. Wer nicht gleichzeitig bei der Verhütung aufpasst oder nichts von den verhängnisvollen anderen Eigenschaften um Thalidomid weiß, schädigt seine Kinder – auch Jahrzehnte nach den ersten Contergan-Opfern.
Ähnlich effektiv wirkt Thalidomid auch beim Multiplen Myelom, einem Non-Hodgkin Lymphom. Gerade bei dieser Krankheit gibt es wenige Therapieoptionen und so zählen der Wirkstoff und seine Derivate zu den wichtigsten Stützen der Behandlung.
Schlüsselteil gefunden, Puzzle aber noch nicht gelöst
Im letzten halben Jahrhundert sollen sich rund 2000 Studien um die Aufklärung des Wirkmechanismus bemüht haben, herausgekommen sind dabei etwa 30 verschiedene Theorien zur Ursache der teratogenen Wirkung. Erst im letzten Jahr veröffentlichte Neil Vargesson aus dem schottischen Aberdeen im renommierten „PNAS“ Ergebnisse, nach denen die verkürzten Gliedmassen auf einen Angiogenese-Block von Thalidomid zurückgehen sollen.
Die Bindung an Cereblon bedeutet nun aber nicht, dass auch die molekularen Grundlagen der Contergan-Katastrophe völlig klar sind. Die Ergebnisse seien ein „Schlüsselteil“ bei diesem Puzzle, so zitiert die New York Times den Molekularbiologen Rolf Zeller von der Universität Basel, aber „es wäre voreilig, den Fall als abgeschlossen zu bezeichnen“. Denn warum Thalidomid nur in einem kleinen Zeitfenster der Schwangerschaft wirkt und welche Rolle Cereblon bei der Organentwicklung spielt, wird in verschiedenen Labors gerade intensiv bearbeitet.
Fluch und Segen von Thalidomid
Vor wenigen Tagen erschien in „Nature Medicine“ ein Artikel, der Thalidomid als effektives Mittel bei Hämorrhagischer Teleangioektasie beschrieb, einer seltenen Erbkrankheit mit Gefäßmissbildungen und schwer zu stoppenden häufigem Nasenbluten. Dort scheint Thalidomid den Spiegel an Platelet-Derived Growth Factor (PDGF) zu erhöhen und so die Gefäße zu retten.
Thalidomid moduliert die Immunabwehr, hemmt die Angiogenese und produziert reaktive Sauerstoffverbindungen im Stoffwechsel. Einzeln oder zusammen sorgen diese Reaktionen für Linderung bei Krebspatienten und Leprakranken und wirken wohl auch bei einigen Autoimmunkrankheiten. Wenn es gelänge, die teratogene Wirkung des Wirkstoffs bei Schwangeren auszuschalten, dann würde aus dem Serientäter in der Mitte des letzten Jahrhunderts vielleicht wirklich noch einmal ein brauchbarer Held