Süddeutsche Zeitung
14.10.2013
Contergan in Spanien Verdacht auf Vertuschung
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Noch Jahre nach dem Contergan-Skandal in Deutschland wurde der Wirkstoff in Spanien verschrieben. Hat das Pharmaunternehmen die Spanier nicht über die Gefahr von Fehlbildungen im Mutterleib infomiert? Betroffene wollen nun vor Gericht Gewissheit.
Von Thomas Urban
Rafael Basterrechea ist 1,95 Meter groß, er hat ein breites Kreuz und ein lautes ansteckendes Lachen. "Ich bin bärenstark", sagt er und zeigt seinen rechten Bizeps. Der linke sei leider weniger vorzeigbar, fügt er mit einem schiefen Grinsen hinzu. Sein linker Arm ist verkürzt, die Hand deformiert. Basterrechea ist der Vizepräsident der Vereinigung der Thalidomid-Opfer Spaniens (Avite).
Der Wirkstoff wurde vom heute in Aachen ansässigen Pharmakonzern Grünenthal hergestellt, das bekannteste Medikament, das ihn enthielt, war Contergan. 200 Mitglieder zählt der Verein, der nun sein Recht auf Entschädigung erstreiten möchte. Die Gesamtzahl der Betroffenen, von denen viele jung gestorben sind, wird auf 3000 geschätzt. An diesem Montag findet vor dem Madrider Bezirksgericht die letzte Anhörung statt, bevor in etwa einem Monat die Urteilsverkündung ansteht.
Immerhin kann der 48-jährige Bauingenieur mit der deformierten Hand zugreifen; allerdings muss er orthopädische Schuhe tragen und ständig ein Medikament nehmen, um den Blutdruck auf die Augen zu senken. Als er geboren wurde, war der verkürzte linke Arm am Rücken angewachsen, in seinen ersten Lebensjahren wurde er sieben Mal operiert.
Heute sagt er: "Ich wollte trotzdem immer alles machen, was meine Alterskameraden auch können." Also lernte er Fahrradfahren und schwimmen. Auch hat er später den Führerschein gemacht, sein Minibus hat Automatikgetriebe und einen Metallknauf am Lenkrad, der das einarmige Steuern erlaubt. Er hat geheiratet, stolz zeigt er das Hochzeitsfoto mit der bildhübschen Braut, der Sohn ist mittlerweile 15 Jahre alt und kerngesund.
Doch bei einem Großteil der Avite-Mitglieder sind alle Gliedmaßen verkrüppelt, manchen fehlen Hände oder Füße ganz, viele sitzen im Rollstuhl und sind ständig auf Hilfe angewiesen. Basterrechea erfuhr erst vor acht Jahren zufällig durch Presseberichte, dass er mit seiner Deformierung nicht allein steht. Seitdem las er alles, was er über den Contergan-Skandal finden konnte. Er erfuhr, dass in der Bundesrepublik das Medikament Ende 1961 vom Markt genommen wurde.
14. Oktober 2013 13:43
Contergan in Spanien Die Anwälte der Opfer haben verdächtige Dokumente gefunden
In Spanien hießen die Pillen anders, es gab mehrere Medikamente, die Thalidomid enthielten, das bekannteste war Softenon. Die Werbung pries es als Mittel gegen Nervosität, Schlaf- und Menstruationsstörungen an, Nebenwirkungen: Fehlanzeige. Grünenthal hat die Tabletten für Spanien allerdings nicht selbst hergestellt, sondern insgesamt 160 Kilogramm an "Schüttware" dafür geliefert. Verpackung und Vertrieb übernahmen einheimische Pharmafirmen. Softenon wurde bis Mai 1962 ausgeliefert.
Das spanische Gesundheitsamt annullierte die Lizenzen für die meisten Thalidomid-Produkte erst zwischen Oktober 1962 und Januar 1963 - aber nicht, weil es von Grünenthal gewarnt worden ist, sondern aufgrund von Presseberichten über den Contergan-Skandal in Deutschland.
Heute streiten die Juristen, wer für diese Verzögerung und die fehlende Unterrichtung der spanischen Öffentlichkeit verantwortlich ist: die Behörden, die Lizenznehmer oder der deutsche Produzent? Die Anwälte von Avite stellten den Antrag, die längst eingelagerten Akten des Contergan-Prozesses von 1968 zu studieren.
Ihre Reise zum Landesarchiv Düsseldorf hat sich aus ihrer Sicht gelohnt: Es fanden sich Kopien der Korrespondenz zwischen Grünenthal und den Lizenznehmern. So bestätigte die Firmenzentrale dem Madrider Vertragspartner Medinsa am 21. Dezember 1961, dass man damit einverstanden sei, "den spanischen Ärzten den Grund des Verkaufsstopps nicht mitzuteilen". Ein zweiter Geschäftsbrief erhärtet den Verdacht, dass man damals gezielt vertuschen wollte: Medicamentos Internacionales fragte bei Grünenthal an, ob man gegen die Annullierung der Lizenzen für die Tabletten Beschwerde einlegen solle. Demnach kannte man bei der spanischen Firma nicht den wahren Grund dafür, sagen die Avite-Experten.
Da es in Spanien nie eine Informationskampagne über die Nebenwirkungen von Thalidomid gab, waren die Tabletten weiter im Umlauf. Basterrechea wurde erst vier Jahre nach dem deutschen Contergan-Skandal geboren. Seine Mutter berichtet, sie habe das Mittel von einem Arzt in der Provinz bekommen. Das letzte Contergan-Kind wurde laut Avite 2003 geboren.
Grünenthal bestreitet allerdings jede Verantwortung: Für den Vertrieb in Spanien seien allein die Lizenznehmer verantwortlich gewesen. In Kürze werden Rafael Basterrechea und seine Leidensgenossen erfahren, ob sich das Gericht in Madrid dieser Auffassung anschließt.