Contergan-Katastrophe: Wie aus der Tragödie ein Skandal wurde
Aachen. Contergan und die Folgen, ein Thema und seine Bilder, die die Geschichte der Bundesrepublik noch lange prägen werden. Wie aber aus der Tragödie der Skandal wurde, der die Gesellschaft verändert hat, das erforscht jetzt eine junge Aachener Historikerin.
Das hübsche Plakat zeigt ein flottes Tanzpärchen - Typ kesse Biene und schmucker Rex Gildo - gezeichnet im Stil der Modezeitschriften der 1950er Jahre; abseits stehend, neidisch auf die beiden schielend, ein armer Tropf, die Hände in den Hosentaschen. Darunter heißt es: «Angst und Kontaktschwäche 3x1 Tabl. Contergan oder 2 Teelöffel Contergan-Saft». Auf dem Foto daneben ist ein Taschenkalender abgebildet. Am 23. August 1961 der Eintrag: «Geburt. Warum, warum. O Gott!». Solche Bilder illustrierten im Jahr 2007 die «Skandale in Deutschland nach 1945» in einer Ausstellung im Bonner Haus der Geschichte. Kopfschüttelnd und betroffen zugleich standen die Betrachter damals davor, erklären musste man eigentlich nichts mehr.
Über Contergan und die Folgen war die Öffentlichkeit vor fünf Jahren längst im Bilde. Es hatte nicht der eindrucksvollen Karriere des Sängers Thomas Quasthoff bedurft, um beim Anblick eines Contergan-Geschädigten Worte wie «Missbildung» oder «Missgeburt» für unsäglich zu halten. Mit Unverständnis nahm die Öffentlichkeit zur Kenntnis, wie schwer sich der Hersteller Grünenthal immer noch mit einer angemessenen Entschädigung, erst recht einer Anerkennung seiner Schuld tat, wie auch mit der Ausstrahlung des ebenfalls 2007 gezeigten Fernsehfilms «Eine einzige Tablette». Contergan, ein Skandal, der kein Ende finden kann.
Ein Skandal, der auch einen späten Anfang hatte. Contergan wird vom 1. Oktober 1957 bis zum 26. November 1961 vertrieben, bis zu 20 Millionen Tabletten pro Monat weltweit. Ein Modemittel für Einsame und Schlaflose, für Kinder mit Himbeergeschmack. Über Fehlbildungen bei Neugeborenen diskutiert der Bundestag schon 1958, Atomwaffentests werden vermutet. Ende Dezember 1960 machen Mediziner erstmals auf die fruchtschädigende Wirkung von Thalidomid aufmerksam, das führt zur Rezeptpflicht im August 1961.
Im gleichen Monat schreibt der «Spiegel» unter dem Titel «Zuckerplätzchen forte» über Nervenschäden. Am 18. November präsentiert der Hamburger Kinderarzt Widukind Lenz seinen dringenden Verdacht auf einer Tagung. Am 26. November 1961 berichtet darüber die «Welt am Sonntag» unter der Überschrift «Mißgeburten durch Tabletten?», ohne Namen zu nennen: «Es ist höchste Zeit, dass die Behörden eingreifen, und zwar sofort.» Am nächsten Tag ist Contergan vom Markt. Doch das Medienecho bleibt zunächst gering, möglicherweise auch ein Erfolg der Pressearbeit von Grünenthal. Januar 1962 ist Contergan fast vergessen.
Glaube an Autoritäten
«Die Zeitgenossen empfanden die Entdeckung zunächst nicht als einen Skandal, der mit unserem heutigen Skandalverständnis zu vergleichen ist. Was heute zu öffentlichem Druck und politischen Rücktritten führen würde, blieb 1961 noch ohne nennenswerte Konsequenzen. Der eigentliche Skandal setzte erst ein, als Journalisten und Betroffene massiv in den Medien die Forderung nach staatlich-finanzieller Hilfe und einer staatlichen Positionierung stellten. Wer war für dieses Unglück verantwortlich?»
Was die junge Aachener Historikerin Anne Günther uns hier vor Augen führt, kann man sich im medialen Rausch von heute, der Politiker wegen missbräuchlich genutzter Bonusmeilen binnen Wochen von der Karriereleiter weht, kaum mehr vorstellen: Die Gesellschaft der 1960er Jahre musste erst einmal lernen, wie ein Skandal hergestellt wird. Die Geburt einer kritischen Öffentlichkeit, das Verlangen nach Konsequenzen und der Übernahme von Verantwortung war ein langer Prozess. Das Versagen von Technik und Wissenschaft, Skepsis gegenüber dem Fortschritt war der aufstrebenden, konfliktscheuen Wirtschaftswunder-Republik noch fremd.
Wie sich im Laufe der 1960er Jahre die politische Kultur änderte, der Sprachgebrauch sich wandelte, aus «Missgeburten» «Behinderte» und kontrollierte Arzneimittelstudien und Produkthaftung Pflicht wurden, der Glaube an Autoritäten einer kritischen Hinterfragung wich, was vor allem auch die Rolle und die Verantwortung der Medien stärkte: diesen bisher in seinen ganzen Dimensionen nicht erfassten, komplexen Prozess darzustellen, hat sich Anne Günther in ihrer Doktorarbeit am RWTH-Institut für Neuere und Neueste Geschichte vorgenommen.
Akzeptanz und Toleranz
Der Contergan-Skandal wäre in der Konsenskultur der 1950er Jahre nicht denkbar gewesen, bestätigt Prof. Armin Heinen, Betreuer der Arbeit und Inhaber des Lehrstuhls: «Dieser Skandal ist Teil des gesamtgesellschaftlichen Veränderungs-, ja Umbruchprozesses.» Einerseits symbolisiere der Skandal diesen Epochenwandel, andererseits habe er ihn vorangetrieben, so Günther, die ihrer Dissertation eine weitreichende Arbeitshypothese zugrunde legt: «Der Contergan-Skandal ist Initiator für Demokratisierung und Liberalisierung in den sechziger Jahren.»
Vier verschiedene Netzwerke mit ihren zunächst je eigenen und dann auch einander beeinflussenden Diskursen haben diesen Wandel bewirkt: Die Netzwerke der Medien, der Pharmaindustrie, der Juristen sowie der Politiker. Wandelten sich die Medien zunehmend zum politisierten Wächter, lernte das Justizsystem aus den quälend langen Ermittlungen, dem erst 1968 eröffneten nach drei Jahren und ohne Verurteilung eingestellten Prozess, sich künftig mehr den Opfern zu widmen.
Die vielleicht wichtigste Wirkung des Skandals aber war die von Günther beobachtete «neue Wahrnehmung von Behinderung». Die Verbindung der Netzwerke hinterließ einen «tiefgreifenden Bedeutungswandel von körperlicher Behinderung und Normalität. Begriffe wie ?Missbildung' und ?Krüppel' kursierten in den Medien, Journalisten fragten nach den körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen der Contergan-Kinder und sensibilisierten die Bevölkerung für diese Themen».
Bestimmten bis dahin Kriegsversehrte und Opfer von Unfällen im Rollstuhl die Bilder von Behinderung, waren es nun Kinder, die von Geburt an beeinträchtigt waren. Günther: «Die Öffentlichkeit musste einsehen, dass sie ihre bisherige Deutung von ?Missbildung' oder ?Behinderung' verändern und erweitern musste. Journalisten, Mediziner, Politiker und Eltern versuchten, Verständnis, Akzeptanz und Toleranz für die ?Contergan-Kinder' zu erreichen.»
Diese historische «Leistung» ist offenkundig gelungen. Die Aufgabe bleibt. 2400 Contergan-Geschädigte, allein in Deutschland, leben noch. Sie oder ihre Interessenvertreter verhandeln gerade mit Grünenthal um Gelder aus einem «Härtefallfonds», der die körperlichen Folgen der Überlastung wenigstens finanziell mildern soll. Das Unternehmen hat sich Ende August anlässlich der Einweihung eines Opfer-Denkmals in Stolberg für sein langes Schweigen entschuldigt. Nicht aber für ein Fehlverhalten in der Sache. In einem Interview vom September sagt der Geschäftsführer Harald Stock: «Grünenthal hat bei der Einführung von Contergan nach dem damaligen Stand von Wissenschaft, Zulassungspraxis und Recht verantwortungsvoll gehandelt.»
Kommentarbox
www.aachener-zeitung.de/lokales/euregio-...n-Skandal-wurde.html