Ausgrenzung in Perfektion – deutsche Gründlichkeit im postnationalsozialistischen Deutschland am Beispiel eines schwerstgeschädigten Conterganopfers - meine Lebensgeschichte....
Mitte November des Jahres 1961 erblickte ich in einem beschaulichen kleinen Ort im Umraum von Bremen das Licht der Welt.
Es hätte schön werden können, denn von meiner Grundhaltung war ich lebenslustig und mit großer Bereitschaft zur Freude angelegt – hätte meine Mutter als sie mich austrug nicht eine Tablette eingenommen: süß und harmlos wie Zucker, hieß es in der Werbung. Contergan! Und wäre das zu einer Zeit geschehen, in der das Denken vom Nationalsozialismus bereits befreit gewesen wäre. So wurde ich aufgrund staatlichen Fehlverhaltens und wegen der Machenschaften des pharmazeutischen Unternehmens Grünenthal als Schwerstgeschädigter geboren, um sodann ein gesellschaftliches Spießrutenlaufen bis hin zu meiner psychischen und physischen Vernichtung durchzumachen.
Aber fangen wir von vorne an:
Meine Behinderung ist umfassend. Mit einem Schadenspunktewert vom 91,26 von 100 Punkten sind bei mir beide Nieren nach unten verschoben. Ich habe eine Augenmuskellähmung, Verlust beider Ohrenmuscheln und eine doppelseitige, praktisch der Taubheit gleichkommende Schwerhörigkeit, überdies eine Gaumensegellähmung und eine schwere entstellende Lähmung der Gesichtsnerven.
Behinderte Kinder zu bekommen war damals peinlich. Es hätte ja jemand auf einen genetischen Defekt der Eltern schließen können. So wurde das dem behinderten Kind widerfahrene Leid oft nicht mit Liebe kompensiert, sondern teilweise mit Ausgrenzung reagiert.
Seit meiner Geburt haben sich meine eigenen Eltern kaum um mich gekümmert, und wenn dann wurde ich nur misshandelt. Meine Eltern standen der Situation „gedemütigt“ - Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung habend – gegenüber. Eine Art Hass entwickelte sich gegen mich. Mein Vater pflegte mich sehr oft mit einem Rohrstock solange zu verprügeln bis ich Striemen hatte.
Man traute sich mit mir quasi überhaupt nicht vor die Türe. Manchmal brachte mich sogar meine Oma, mein Opa oder meine Tante zum Schulkindergarten bzw. zur Schule.
Während der Schulzeit in Bremen, hat die Klassenlehrerin mich kaum beachtet und sich kaum um mich gekümmert. Gerade wegen meiner Sprachstörung, einhergehend mit meinen Entstellungen, galt ich auch in der Schule als so abnorm, dass man mit mir oft nichts zu tun haben wollte.
Schuld von Konflikten mit anderen Kindern wurde meistens mir zugeschoben. So ist einmal ein Mitschüler hingefallen hat sich schmutzig gemacht. Die Lehrerin fragte nach dem Grund. Der Mitschüler gab als Antwort, ich hätte Schuld Als Strafe musste ich eine Strafarbeit schreiben. Durch meine Sprachbehinderung konnte ich mich nicht erklären. Ich habe insbesondere durch meine Sprachstörung immer stigmatisierende Probleme gehabt.
Die Situation gipfelte darin, dass die Klassenlehrerin im Jahr 1970 einen Antrag gestellt hat, mich ständig in die Psychiatrie einzuweisen, weil ich angeblich schwer erziehbar und aggressiv sei. Sodann musste ich die gesamten Sommerferien 1970 zur Untersuchung in der Psychiatrischen Abteilung in Bremen-Osterholz verbringen. Der Befund war, dass ich bei vernünftiger Förderung ein gutes Entwicklungspotential habe.
Nach den Sommerferien im Jahr 1970 kann ich auf ein Schulinternat für Hörgeschädigte. Es hat bei mir sehr lange gedauert, um wenigstens halbwegs in ein inneres Gleichgewicht zu kommen, was durch den räumlichen Abstand zu meinen Eltern einwenig gelang. Allerdings fehlte mir die Liebe und Zuneigung, die ein Kind in diesem Alter braucht. Wenn auch meine Großeltern sich in den Ferien nach besten Kräften bemühten, war dies weder Elternersatz, noch konnten die bestehenden Wunden bei mir hierdurch geheilt werden. Man lebte mit anderen Behinderten zusammen, weit ab von der gesellschaftlichen Normalität – am Rande der Gesellschaft. Ausgegrenzt!
Trotz allem machte ich den Hauptschulabschluss, besuchte die Fachoberschule, auf der ich den Realschulabschluss erreichte und examinierte nach verschiedenen beruflichen Stationen, zum Altenpfleger. Seit dem Jahr 1998 erhalte ich wegen erheblichster Spät- und Folgeschäden, Erwerbsunfähigkeitsrente.
Meine Mutter, die noch lebt, kümmert sich bis zum heutigen Tag um meine Brüder und um meine Schwester, aber nicht um mich. Wenn früher Geburtstage in der Familie gefeiert wurden, konnte ich nicht daran teilnehmen. Ich wurde in mein Zimmer weggesperrt und die Tür wurde abgeschlossen.
Meine Mutter wohnt heute ca. 15 Minuten von mir entfernt wenn ich sie beim Einkaufen treffe. dann grüßt sie mich noch nicht einmal. Bei meinen anderen Geschwistern ist sie immer da. Bis heute hat sie es nicht geschafft, sich mit meiner Behinderung adäquat auseinander zu setzen.
Ich bin alleine. Meine Behinderung, insbesondere mein Aussehen, beeinträchtigt mich bei der Partnersuche. Ich hätte gerne eine kleine Familie und Kinder.
Der Umfang der gesellschaftlichen Ausgrenzung ist unfassbar: In der Schulzeit wurde ich unter den Hörgeschädigten zwar aufgrund meines Aussehens gehänselt, aber nicht so schlimm wie durch nichtbehinderte Menschen. In München wurde mir mit anderen Behindertengruppen der Einlass in der Disco wegen der Behinderung verweigert. Vermieter scheuen vor einem zurück, überall wird man angestarrt.
Wie lange das mit nachlassenden Kräften von mir noch bewältigbar ist, ist völlig unklar. Gerade vor dem Alter habe ich Angst!
Um wenigstens für später feste Unterkunft zu haben, würde ich mir von einer Entschädigung eine kleine Wohnung kaufen.
Hierfür reicht die Conterganrente, die ich in ihrem Höchstsatz - 545 Euro bis zum 01.07.2008 und nunmehr 1.116 Euro - beziehe, nicht aus.