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THEMA: Wenn jede Minute zur Qual wird

Wenn jede Minute zur Qual wird 01 Feb 2015 11:45 #37064

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Contergan

Wenn jede Minute zur Qual wird

Die Opfer des Conterganskandals werden langsam alt. Sie mussten lernen, mit ihren Behinderungen zu leben, aber die medizinische Versorgung ist schwierig. Eine neue Sprechstunde hilft nun, ihre Leiden zu lindern. von Vivian Pasquet
"Frau Schwartau, wann sind Sie geboren?" "Am 20. Juni 1962, aber fragen Sie mich nicht nach der Uhrzeit. Meine Eltern waren so geschockt, als sie mich das erste Mal gesehen haben, dass sie die Uhrzeit vergessen haben."

Christiane Schwartau sitzt in ihrem Wohnzimmer in Finkenwerder, sie trägt einen grauen Kurzhaarschnitt. Dort, wo normalerweise die Arme beginnen, schauen aus umgenähten Blusenärmeln Hände hervor. Drei Finger links, drei Finger rechts.
Christiane Schwartau spricht laut und schnell. Die Geburt eines Kindes, sagt sie, sollte doch zu den schönsten Momenten eines Elternlebens gehören, oder?

"Geben Sie das Baby in ein Kinderheim. Belasten Sie sich nicht mit einem behinderten Kind", habe der Arzt zu ihrer Mutter gesagt.

Monate vor der Geburt hatte Christiane Schwartaus Mutter über Schlafprobleme geklagt. Zur Linderung empfahl der Arzt eine Tablette Thalidomid.

Der Handelsname von Thalidomid: Contergan.

Nicht nur ihre Arme, auch Schwartaus Hüfte war fehlgebildet, weil ihre Mutter Contergan nahm. Deshalb fixierte man Christiane Schwartau, als sie wenige Wochen alt war, die Beine: ein Jahr Spreizgips von der Leiste bis zu den Knöcheln. Erst mit drei Jahren lernte sie laufen. Das Heranwachsen wurde ihr Feind. Mit jedem Wachstumsschub verschoben sich Knochen. Unzählige Operationen folgten.
Eine Leidensgeschichte, die Christiane Schwartau fast erspart geblieben wäre. Nur wenige Wochen nachdem ihre Mutter schwanger geworden war, nahm man Contergan vom Markt. Von 1957 bis Ende November 1961 war es als Schlaf- und Beruhigungsmittel rezeptfrei erhältlich. Im Juni 1962 wurde Christiane Schwartau geboren. "Man hat nicht immer Glück im Leben", sagt Schwartau. Sie ist eines der letzten Opfer des größten Medikamentenskandals der Bundesrepublik.
Was bedeutet es, ohne Arme zu leben?

Christiane Schwartau trägt ihre Handtasche mit den Zähnen, Reißverschlüsse schließt sie mit den Lippen, beim Schreiben hält sie den Stift mit dem Mund oder mit den Füßen. Beim Einkaufen hat sie Probleme, Etiketten und Preisschilder zu lesen, weil sie dafür ihre Lesebrille aufsetzen müsste. Wenn sie ein Glas Wasser trinken möchte, beugt sie den Oberkörper nach vorne, dreht ihn ein, kippt die Schulter zum Tisch, bis die Hände das Glas erreichen. Alltägliche Verrichtungen, die Mühe kosten und Schmerzen bereiten. Seit über fünfzig Jahren.

Was macht das mit einem Körper? Mit den Gelenken? Mit den Zähnen? Mit den Sehnen und Muskeln?

Die Opfer des Conterganskandals werden langsam alt. 2.500 der etwa 7.000 Opfer in Deutschland leben laut dem Bundesverband Contergangeschädigter noch. Sie sind jetzt zwischen 53 und 57 Jahre alt. In Zeiten der modernen Medizin gilt ein Patient dieses Alters als "jung". Die Körper der Contergangeschädigten aber gleichen denen viel älterer Menschen. Eigentlich sind sie schon zwanzig Jahre älter.

Wenn jede Minute zur Qual wird

Seite 2/3: Fast alle haben chronische Schmerzen – und immer wieder Depressionen

Für die Medizin eine Herausforderung. Eine Herausforderung, der sich nicht viele stellen wollen. Zu groß sind die Probleme, die Kosten, vielleicht ist auch der Wille zu gering. Doch jetzt gibt es in Hamburg-Eilbek einen Arzt, der den Betroffenen helfen möchte. "Geld verdient man damit nicht gerade", sagt Rudolf Beyer. Trotzdem ließ er sich sofort von der Idee überzeugen, als Gernot Stracke auf ihn zukam.

Gernot Stracke, Vorsitzender des Hilfswerks für Contergangeschädigte in Hamburg. 160 Mitglieder – Betroffene, Familienangehörige, Freunde von Opfern. "Viele von uns haben jahrelang ihren Körper vergewaltigt", sagt Gernot Stracke. Er sagt: "Wechseln Sie mal die Windel Ihres Babys mit den Füßen." Er sagt: "Schrauben Sie mal eine Glühbirne ohne Arme ein." Oder: "Gehen Sie mal einen ganzen Tag lang nicht aufs Klo, weil Sie die Hose nicht aufbekommen." Dann sagt er lange nichts mehr.
Im Jahr 2012 beschäftigten sich Wissenschaftler der Universität Heidelberg mit der Zukunft der Opfer des Conterganskandals. 297 Seiten umfasst die sogenannte Heidelberger Studie. Dafür füllten 870 Geschädigte Fragebögen aus, sprachen in Einzelinterviews über ihren Alltag. Menschen, denen außer den Armen auch die Beine fehlten. Oder eine Niere. Gehörlose und halb Blinde. Es waren auch Patienten dabei, deren Schädigung so versteckt war, dass sie erst im Erwachsenenalter erkannt wurde.

Bisher gab es nur einen Kassenarzt für Conterganopfer. Er sitzt in Nürnberg

Der Conterganschaden ist wie ein Chamäleon. Je nachdem, in welchem Schwangerschaftsmonat das Medikament eingenommen wurde, treten unterschiedlichste Fehlbildungen auf.

Ein Ergebnis der Heidelberger Studie: Menschen mit Conterganschäden haben vielfältige Strategien entwickelt, um mit ihren Behinderungen zu leben. Oft ersetzen gesunde Körperteile die fehlenden. Die Patienten kämmen sich mit einem Kamm, der zwischen den Füßen klemmt, halten die Zahnbürste mit den Zehen. Ein weiteres Ergebnis der Studie: Die Kompensationsstrategien der Conterganopfer sind endlich. Viele Patienten zeigen Verformungen des Kiefers, Fehlbildungen der Zähne, kaputte Rückenwirbel, fast alle haben chronische Schmerzen. Und immer wieder Depressionen. Die Wahrscheinlichkeit, dass psychische Erkrankungen auftreten, liegt dreimal höher als bei nicht Geschädigten. Und: Fast jeder der Befragten war mit der ärztlichen Betreuung unzufrieden.
Bisher gab es nur einen Spezialisten, an den sich Contergangeschädigte aus ganz Deutschland auf Kassenkosten wenden konnten. Jürgen Graf betreibt seine Praxis in Nürnberg. Mehr als 50 Jahre nachdem die ersten Contergankinder geboren wurden, mussten die Betroffenen oft Hunderte Kilometer zurücklegen, um die Hilfe dieses Spezialisten in Anspruch nehmen zu können. Graf ist heute 62 Jahre alt. Neben dem eigenen Alter ist es das Alter des Arztes, das den Betroffenen Angst macht: Was, wenn er nicht mehr praktiziert?

Vor einigen Jahren habe er sich beim Fußballspielen den Knochen über seiner Hand gebrochen, sagt Stracke. Zum Glück sei nichts verschoben gewesen. Trotzdem rief er sicherheitshalber in Nürnberg an. Herkömmliche Ärzte wüssten meist nicht, wie die Knochen von Contergangeschädigten richtig zusammengehören.

Er selbst habe zwar noch keine schwerwiegenden Probleme. Außerdem sei er verheiratet, sagt Stracke. Zwei Söhne wohnen in seinem Haus in Lohbrügge. Aber was passiert, wenn er doch eines Tages allein sein sollte? Was passiert mit denen, die schon allein sind? Mit der Veröffentlichung der Heidelberger Forscher hatte Stracke endlich etwas in der Hand, um Veränderungen zu fordern.

Sein Ziel war es, ein Krankenhaus zu finden, das sich bereit erklärt, beim Aufbau einer Contergansprechstunde mitzuhelfen. Er wollte einen Ort in Norddeutschland, an dem jeder Contergangeschädigter professionelle Hilfe erhalten sollte. Von Fachpersonal, das sich wirklich mit Conterganschäden auskennt. Eine ganzheitliche Betreuung, einen Ort, an dem sich Geschädigte durchchecken lassen können und Behandlungskonzepte erarbeitet werden sollten. Stracke besuchte Fachveranstaltungen, schrieb Geldgeber und Stiftungen an, überzeugte die Hamburger Gesundheitsbehörde von seinen Plänen. Viele Krankenhäuser reagierten verhalten, erzählt Stracke. Nur 2.500 Betroffene deutschlandweit, 400 davon in Norddeutschland. Patienten, die besonders viel Zeit brauchen, deren Behandlung komplex ist. Da reichen die Kostenübernahmen der Kassen nicht.

"Die Beschwerden dieser Menschen finden Sie in keinem Lehrbuch"

Dann wurde Gernot Stracke endlich fündig. Auf Rat einer Bekannten fragte er beim Arzt Rudolf Beyer an.

Beyer sitzt auf einem Drehstuhl in der Schön Klinik Eilbek. Elf Quadratmeter Behandlungszimmer, abschließbare Schränke, höhenverstellbare Liege, ein Schreibtisch am Fenster. Als Stracke ihn fragte, sagt Beyer, "musste ich gar nicht lange überlegen". Eigentlich ist er Anästhesist und Schmerztherapeut. Er hat auf Intensivstationen gearbeitet, als Notarzt, als Taucharzt. Als Schiffsarzt fuhr er bis in die Antarktis. Und nun die Contergansprechstunde.

Seite 3/3: Die Sprechstunde ist für die nächsten Monate ausgebucht

"Es gab viele Kleinigkeiten, die man beachten musste", sagt Beyer. Viele Conterganpatienten, die heute in die Klinik in Eilbek kommen, seien jahrelang bei keinem Arzt gewesen. Zu groß waren die Vorbehalte, zu stark war die Angst vor Spritzen. Blutabnehmen sei für viele seiner Patienten eine Qual, sagt Beyer. Die Gefäße verliefen oft atypisch, oder man würde sie überhaupt nicht finden.

"Ich habe eine Spritzenphobie", sagt Christiane Schwartau in Finkenwerder. "Bei mir wurde als Kind überall nach Venen gesucht. In den Armen, den Beinen, einmal bekam ich einen Zugang am Hals", sagt Gernot Stracke in Lohbrügge. Rudolf Beyer sagt, die Betroffenen hätten oft hohe Zucker- und Cholesterinwerte, schlechte Leberwerte. Weil es keine Arme zum Blutdruckmessen gäbe, sei bei einigen noch nie der Blutdruck kontrolliert worden. Dann gäbe es noch die Geschädigten, die zwar Hausärzte besuchten, aber Opfer der Effizienz würden, so Beyer. Denn Effizienz bedeute eben auch Schnelligkeit. Acht Minuten dauert ein durchschnittlicher Arztkontakt in Deutschland.











Zweieinhalb Stunden nimmt sich Beyer für ein Erstgespräch in der Contergansprechstunde. "Die Beschwerden dieser Menschen finden Sie in keinem Lehrbuch. Die Patienten machen eine Entwicklung mit, die nirgendwo vorher untersucht wurde", sagt er. Oft reichen auch zweieinhalb Stunden nicht, deshalb hat sich Beyer dafür eingesetzt, dass ein spezielles Patientenzimmer für Betroffene eingerichtet wurde. Mit höhenverstellbaren Waschbecken und einer Duschtoilette. Dafür schrieb Beyer Anträge, befasste sich mit rechtlichen Besonderheiten. Um eine ganzheitliche Betreuung zu sichern, telefonierte er mit Augenärzten, HNO-Spezialisten, beriet sich mit den Orthopäden und Physiotherapeuten im eigenen Haus. Er schrieb Gebärdensprachdolmetscher an, Zahnärzte, entwickelte Abrechnungsmodelle. Beyer war jetzt nicht nur Arzt, sondern auch Hausmeister, Architekt, Sekretär und Jurist. Unterstützt wurde er dabei aber auch von seinen Chefs und einigen Kollegen. Der Bundesverband Contergangeschädigter bezuschusste die Einrichtung des Behandlungszimmers.

Im September 2014 kamen die ersten Patienten, erst zwei, dann sechs. "Man muss den Leuten Zeit geben, und sie müssen Vertrauen fassen", sagt er. "Das ist eine 50 Jahre währende, traumatisierende Geschichte." Mittlerweile ist Beyers Sprechstunde für die nächsten Monate ausgebucht.

Christiane Schwartau weiß von der Contergansprechstunde. Sie könne sich gut vorstellen, dort hinzugehen, obwohl sie sich eigentlich nicht krank fühlen will. Trotz ihrer Behinderung arbeitet sie in Teilzeit bei einer Berufsgenossenschaft. Sie freut sich, dass es endlich Spracherkennungsprogramme für den Computer gibt. Davor benutzte sie kleine Stöckchen, um die Tastatur zu bedienen. Dreimal in der Woche kommt eine Haushaltshilfe. Sie dreht die Deckel der Sprudelflaschen auf, ein kleines Stück nur. So kann Schwartau die Flaschen mit den Zähnen leichter öffnen. Schwartau sagt: "Ich weiß doch, dass alles eigentlich nur noch eine Frage der Zeit ist."

"Man darf aber auch nicht alles nur negativ sehen", sagt Gernot Stracke. "Eigentlich habe ich auch ganz schön Glück gehabt." Das habe er vor zwei Jahren erkannt. Ein Tag im Sommer, Stracke fuhr mit seinem umgebauten Motorrad zu einem Würstchenstand. Blick über die Elbe, Kaffee aus dem Pappbecher, ein alter Mann mit Tränen in den Augen am gleichen Tisch. "Kann ich Ihnen helfen?", fragte Gernot Stracke.

"Sind Sie conterganbehindert?", fragte der Mann.

"Ja, aber deshalb müssen Sie nicht traurig sein", sagte Stracke.

Der Mann fing an zu weinen. "Mein Kind war auch contergangeschädigt. Es ist an den Folgen gestorben", sagte er. Stracke weiß, dass viele Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft Contergan eingenommen hatten, tot geboren wurden. Oder kurz nach der Geburt gestorben sind. Etwa 4.000 Babys haben die Missbildungen nicht überlebt. Aber erst in diesem Moment, am Würstchenstand, sagt Stracke, habe er realisiert, dass er außer einem Opfer noch etwas anderes ist: ein Überlebender.
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