(Zum 18. Dezember) Contergan-Prozess vor 40 Jahren eingestellt - weiter Protest    Von Elke Silberer, dpa (Mit Bild)

Contergan - Es gibt keinen verurteilten Schuldigen und keine
Sühne. Vor 40 Jahren wurde der Strafprozess gegen Grünenthal
eingestellt. Contergan-Opfer leiden bis heute darunter.

   Aachen (dpa) - Die Stimmung ist geladen, höchst feindselig. Auf

der Anklagebank sitzen der Chef und acht Beschäftigte der Firma
Grünenthal, ihnen gegenüber drei Staatsanwälte. Im Mai 1968 beginnt
mit dem Contergan-Prozess eines der größten deutschen Strafverfahren.
Gut zwei Jahre später, am 18. Dezember 1970, wird das Verfahren
eingestellt. Im Gegenzug verpflichtet sich Grünenthal zur Zahlung von
100 Millionen D-Mark plus Zinsen für die missgebildeten Kinder. Die
Opfer bewerten das rückblickend als verhängnisvolle Entscheidung.

Contergan löste einen der größten Arzneimittelskandale aus.
Weltweit kamen 10 000 Kinder mit schweren körperlichen Missbildungen
zur Welt, davon 5000 in Deutschland. Bei Erwachsenen verursachte
Contergan eine Nervenschädigung (Polyneuritis).

Laut einer wissenschaftlichen Untersuchung fragte ein Neurologe
1959 bei Grünenthal an, ob der Contergan-Wirkstoff Thalidomid zu
Nervenschädigungen führen kann. Im selben Jahr weist ein Gynäkologe
einen Außendienstler von Grünenthal darauf hin, dass er Missbildungen
seines Sohnes mit Thalidomid in Verbindung bringt. Im November 1961
nimmt Grünenthal die Präparate aus dem Handel. Fast sieben Jahre
später beginnt der Strafprozess gegen die Mitarbeiter.

Hans Helmut Günter (76) war damals junger Staatsanwalt in dem
Verfahren. Es habe keine Alternativen zur Einstellung des Prozesses
gegeben, sagt er im Wohnzimmer seines Hauses in Aachen - vor sich auf
dem Tisch die vergilbte Anklageschrift, Aktenzeichen 4 JS 987 61:
Vorwurf der fahrlässigen und vorsätzlichen Körperverletzung sowie
fahrlässige Tötung gegen neun Angeklagte aus dem Unternehmen.

   Der Prozess war zäh, ein Ende nicht in Sicht. Fraglich war auch,

ob es am Ende überhaupt noch einen verhandlungsfähigen Angeklagten
gegeben hätte. Nach und nach waren vier krank geworden - zuletzt
saßen nur noch fünf im Gerichtssaal. «Wenn alle Angeklagten
ausgeschieden wären, wäre der Prozess geplatzt», erinnert sich
Günter. In dieser Phase beantragte Grünenthal die Einstellung des
Verfahrens. Die Staatsanwälte handelten mit dem Unternehmen die
Konditionen aus. Die Gespräche gingen manchmal bis tief in die Nacht.

   Es ging um Geld. «Es war ein zentraler Punkt, wie viel die Kinde
r
bekommen. Bei zehn Millionen Mark hätten wir nie Ja gesagt», erzählt

Günter. Bei 100 Millionen plus Zinsen wurde der Deal besiegelt. «100
Millionen waren damals eine Menge Geld.» Weitere 100 Millionen kamen
vom Bund. «Damals sind wir davon ausgegangen, dass die Kinder eine
kürzere Lebenserwartung haben. Heute wissen wir, die werden so alt
wie wir», sagt der Jurist. Das Unternehmen schreibt dazu auf seiner
Internet-Seite: «Grünenthal zahlte freiwillig eine Summe von 114
Millionen DM in die Stiftung "Hilfswerk für behinderte Kinder" ein.»

   Das Geld ist längst aufgebraucht. Die Contergan-Stiftung zahlte

nach eigenen Angaben bis Ende 2008 rund 460 Millionen Euro aus. Vom
Hersteller kam mit den umgerechnet 51 Millionen Euro von damals nur
ein Bruchteil. Der Rest sind Steuermittel. Im vergangenen Jahr
leistete Grünenthal noch mal eine «Sonderzahlung» über 50 Millionen

Euro.

   «Es wäre wichtig gewesen, wenn es zu einer Verurteilung gekomm
en
wäre», sagt Contergan-Opfer Andreas Meyer und spricht damit vielen
Betroffenen aus der Seele. Meyer kämpft seit Jahrzehnten erbittert um
Entschädigungen mittlerweile in Milliardenhöhe. Diesen Kampf führt
der Mann im Rollstuhl mit Demonstrationen und Boykottaufrufen.

Deutsche Contergan-Opfer dürfen laut Gesetz nicht gegen Grünenthal
klagen. Eine Folge aus dem Stiftungsgesetz, das die Zahlung der
Contergan-Millionen an die Behinderten regelt. Damit erloschen
automatisch alle potenziellen Ansprüche von Opfern gegen die Firma.
Meyer spricht von «Generalenteignung».

Auch für Christian Stürmer vom Contergan-Netzwerk ist das der
eigentliche Skandal - und nicht die Einstellung des Verfahrens. Wegen
dieser gesetzlichen Regelung hat auch nie ein deutsches Gericht über
mögliche Schadensersatzansprüche von Contergan-Opfern entschieden.
Das Netzwerk hat dagegen vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte geklagt.


# Notizblock

## Redaktioneller Hinweis:
- Es folgt ein Hintergrund zum Einstellungsbeschluss

## Internet
- [Grünenthal zu Contergan](http://dpaq.de/oW007)