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Betroffene in Brasilien Stoppt Conterganstiftung Opferrenten?
Stand: 29.11.2019 17:03 Uhr
Die Conterganstiftung will nach Recherchen von NDR, SWR und "Spiegel" 58 Geschädigten in Brasilien kein Geld mehr zahlen. Die Begründung erscheint fragwürdig.
Von Christian Baars, NDR, und Simon Riesche, SWR
Marcus Arruda hält ein Schreiben der Conterganstiftung (Screenshot)
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Arruda eagierte schockiert auf das Schreiben der Conterganstiftung.
Marcus Arruda sitzt an seinem Schreibtisch. Aus einer Mappe fischt er einen alten, vergilbten Zettel heraus, einen Beipackzettel für das Mittel Sedalis. "Dieses Medikament hat mein ganzes Leben komplett eingeschränkt", sagt Arruda. "Seit ich ein Kind bin, muss ich mit meiner Behinderung leben." Arrudas Hände sind ungewöhnlich geformt, die Arme stark verkürzt. Er ist jetzt 57 Jahre alt.
Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre kamen in Brasilien viele Kinder wie er mit schweren Fehlbildungen zur Welt. Arrudas Mutter hatte während der Schwangerschaft Sedalis genommen. In brasilianischen Zeitungsanzeigen wurde es damals massiv beworben - als "Beruhigungsmittel ohne Nebenwirkungen".
Contergan-Wirkstoff weltweit vermarktet
Originalpackungen des Medikaments Contergan | Bildquelle: picture-alliance/ dpa
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Der Contergan-Wirkstoff wurde in vielen Ländern vermarktet - unter verschienenen Markennamen.
Es enthielt den Wirkstoff Thalidomid, entwickelt von der deutschen Firma Chemie Grünenthal. In Deutschland wurden die Medikamente unter dem Namen "Contergan" vertrieben. Das vermeintlich harmlose Mittel steht für einen der größten Arzneimittelskandale der Geschichte.
Um den Geschädigten weltweit zu helfen, gründete Deutschland Anfang der 1970er-Jahre eine Stiftung. Der Staat versprach den Thalidomid-Geschädigten damals eine "wirksame Hilfe" bis an ihr Lebensende. Derzeit erhalten noch etwa 2600 Menschen eine monatliche Rente von der Conterganstiftung - zwischen 719 und 8117 Euro. Fast 300 von ihnen leben im Ausland.
Deutscher Staat trägt die meisten Kosten
Bezahlt werden die Entschädigungen überwiegend aus Steuergeldern. Grünenthal zahlte zwar anfangs 100 Millionen Mark in die Stiftung ein, später noch einmal 50 Millionen Euro. Aber dieses Geld ist lange ausgegeben. Allein im vergangenen Jahr überwies die Stiftung fast 130 Millionen Euro an Renten und etwa 27 Millionen Euro für pauschale Leistungen.
Zugesichert wurden die Entschädigungen allen Betroffenen - allerdings unter der Voraussetzung, dass die Mutter tatsächlich ein Präparat der Firma Grünenthal genommen hatte. Denn Thalidomid war in mehr als 40 Ländern erhältlich. Teils verkaufte Grünenthal das Medikament unter verschiedenen Markennamen selbst, teils stellten andere Firmen Thalidomid-Präparate als Lizenznehmer her.
Lage in Brasilien eigentlich eindeutig
In Brasilien schien die Sache lange Zeit recht klar. Niemand zweifelte daran, dass Sedalis ein Mittel von Grünenthal war. Die deutsche Firma hatte es ab Ende der 1950er-Jahre zusammen mit einem brasilianischen Partner vermarktet.
Beipackzettel von Sedalis in Brasilien (Screenshot)
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Der Beipackzettel von Sedalis in Brasilien weist auf Grünenthal hin.
Bis heute bekommen deshalb 58 Geschädigte, deren Mütter Sedalis genommen hatten, eine Rente von der Conterganstiftung in Köln. Doch seit einigen Wochen bangen sie um ihre Lebensgrundlage. Nach Recherchen von NDR, SWR und "Spiegel" hat ihnen die Stiftung Mitte Oktober einen Brief geschickt.
Auch Marcus Arruda gehörte zu den Empfängern. Er war irritiert: "So ein Brief, der plötzlich kommt", auf Deutsch. "Ich kann aber kein Deutsch", sagt Arruda. Als er schließlich verstand, worum es geht, war er schockiert. Die Stiftung teilte ihm förmlich mit, sie beabsichtige, den Anerkennungsbescheid zu widerrufen und die sofortige Vollziehung anzuordnen. Sie droht ihm also, die Rente zu streichen - und zwar umgehend.
Angedrohter Zahlungsstopp nach fast 50 Jahren
Fast 50 Jahre lang hat er das Geld bekommen, zuletzt gute 2000 Euro im Monat aus Deutschland. Er ist darauf angewiesen. Nur so kann er sich die nötigen Behandlungen und die Pflege leisten. Und jetzt, da er älter wird und die Einschränkungen größer, soll die Rente gestrichen werden. "Allein schon der Gedanke daran macht mir große Sorgen", sagt Arruda. Für ihn sei das alles ein Alptraum.
In dem Brief begründet die Stiftung ihr Vorgehen recht knapp: "Nach Informationen aus Ihrer Akte hat Ihre Mutter während der Schwangerschaft das Medikament Sedalis eingenommen." Hierbei handele es sich nicht um ein Grünenthal-Präparat, sondern um das eines Lizenznehmers. "Somit sind Ihre Fehlbildungen nicht mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Grünenthal GmbH durch Ihre Mutter in Verbindung zu bringen."
Anwälte in Deutschland und Brasilien kooperieren
"Völlig unmöglich" und "ziemlich verblüffend", sei es, was die Stiftung da mache, sagt Christian Niederhageböck, Anwalt in Brasilien, der nun Arruda und 24 weitere Betroffene unterstützt. Zusammen mit der Marburger Anwältin Karin Buder, die sich seit Jahren für Contergan-Geschädigte einsetzt, wollen sie gegen die angekündigte Rentenstreichungen vorgehen. Das Verhalten der Stiftung sei "nicht nachzuvollziehen", sagt Buder. Denn es sei doch bekannt, dass "Grünenthal das Medikament in Brasilien vertrieben hat".
Darauf weisen auch mehrere Dokumente hin, die NDR, SWR und "Spiegel" vorliegen - unter anderem ein Leitfaden für "Die Entschädigung der Contergankinder", der 1973 erschienen ist. Darin wird Sedalis als Präparat des Unternehmens aufgelistet. Und in einem Schreiben, das 1976 der Vorsitzende der Medizinischen Kommission der Stiftung verfasste, heißt es, bei Sedalis handele es sich "um ein thalidomidhaltiges Schlafmittel der Firma Grünenthal, das in Brasilien durch die Firma Pinheiros für Chemie Grünenthal vertrieben wurde".
Urteil bestätigt Einschätzung
Zudem wurde 2016 in einem Urteil des Verwaltungsgerichts Köln festgehalten: In Brasilien seien mehrere thalidomidhaltige Arzneimittel im Handel gewesen. "Nur das Arzneimittel mit der Bezeichnung 'Sedalis' wurde von der Fa. Grünenthal hergestellt." Und auf den Original-Beipackzetteln heißt es, dass das Produkt in technischer Zusammenarbeit mit der Firma Chemie Grünenthal hergestellt worden ist.
Wie kommt also die Conterganstiftung nun zu der Einschätzung, dass Sedalis doch kein Grünenthal-Präparat sei? Auf diese Frage von NDR, SWR und "Spiegel" teilte die Stiftung mit, sie habe Mitte 2018 eine Anfrage zu einem anderen Thalidomid-Medikament, das in Brasilien vertrieben wurde, erhalten. In diesem Rahmen sei sie "zu der neuen Erkenntnis" gelangt, "dass es sich bei dem Präparat 'Sedalis' nicht um ein Präparat der Firma Grünenthal GmbH, Aachen gehandelt hat, sondern um ein Lizenznehmerprodukt", so die Conterganstiftung.
Grünenthal widerspricht Stiftung
Viele Contergan-Opfer mussten ihre Entschädigung in langen Prozessen erstreiten.
Diese Einschätzung versteht aber selbst Grünenthal nicht. Auf Anfrage von NDR, SWR und "Spiegel" teilte eine Pressesprecherin mit: "Grünenthal hat keine Kenntnis davon, warum die Conterganstiftung zum jetzigen Zeitpunkt zu der Einschätzung kommt, dass 'Sedalis' kein Präparat von Grünenthal gewesen sein soll." Die Firma stellt klar: "Sedalis wurde damals in Brasilien unter den Namen und Firmenlogos sowohl von Instituto Pinheiro als auch von Grünenthal vertrieben."
Grünenthal sei mit dem Vorgehen der Stiftung nicht einverstanden, habe aber keinen Einfluss darauf, schreibt die Pressesprecherin und weist noch daraufhin, dass die Conterganstiftung selbst "durch ihre verantwortlichen Gremien vor beinahe fünfzig Jahren entschieden" habe, "dass Sedalis ein Produkt war, das unter das Conterganstiftungsgesetz fällt." Grünenthal sehe keine Veranlassung, an dieser Bewertung zu zweifeln.
Vorerst kein Rentenstopp
Und das Bundesfamilienministerium, dem die Conterganstiftung unterstellt ist, erklärte auf Anfrage, die Stiftung habe aus eigenem Entschluss die Schreiben verschickt. Das Ministerium habe vom Inhalt keine Kenntnis gehabt, sondern sei nur über das Vorgehen informiert worden. Vorerst - bis zum Abschluss der Anhörungen - würden die Leistungen weiter gezahlt.